ÜBER GENUSS UND MORAL

VON HANNI RÜTZLER – STANDEN BEI DER BEURTEILUNG UNSERES ESSENS LANGE ZEIT KULINARISCHE UND GESUNDHEITLICHE KRITERIEN IM VORDERGRUND, DRÄNGEN NUN MEHR UND MEHR SPIRITUELLE UND MORALISCHE ASPEKTE INS ZENTRUM DER AUFMERKSAMKEIT. DASS UNSER ESSVERHALTEN VON RELIGIÖSEN ODER ETHISCHEN LEBENSEINSTELLUNGEN GEPRÄGT WIRD, IST ZUNÄCHST NICHTS NEUES:

Gläubige Christen fasten freitags, Moslems essen kein Schweinefleisch und trinken keinen Alkohol, orthodoxe Juden meiden unter anderem den gleichzeitigen Verzehr von „fleischigen“ (basari) und „milchigen“ (chalawi) Speisen. Und schon lange bevor der Begriff Veganismus Mitte des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, gab es immer wieder Menschen, die auf den Verzehr von Fleisch und Wurst bewusst verzichtet haben.

Neu aber ist, dass spirituell begründete Ernährungsweisen zum Lifestyle werden und zu einer allgemeinen Moralisierung unseres Essens führen. Neu ist, dass vegane Ernährung nicht bloß die Praxis einer kulinarischen Sekte ist, sondern auch ein lukratives Geschäft für die Nahrungsmittelindustrie. Neu ist, das die Begriffe halal und koscher nicht mehr bloß für religiöse Speisevorschriften stehen, sondern zu allgemein anerkannten Trademarks für bewusste Ernährung werden, die auch bei nichtreligiösen Konsumenten Anklang finden, weil als halal oder koscher zertifizierte Lebensmittel als „kontrollierter“ und „sicherer“ wahrgenommen werden und sie – insbesondere in den USA – als „hip“ gelten.

In New York, der Metropole mit dem höchsten Anteil an Muslimen und Juden in den USA, gehört es längst zum Alltag, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, Herkunft und Religion vor Halal Food Carts und koscheren Feinkostläden Schlange stehen. Menschen, für die religiöse Aspekte absolut keine Rolle spielen, die aber glauben, dass die Herstellung von Lebensmitteln und Speisen nach traditionellen religiösen Vorschriften strenger überwacht wird als das konventionelle Angebot.

Glauben ist also das Stichwort, das dem neuen Trend den unverwechselbaren Stempel aufdrückt. Glauben freilich nicht nur im strikt religiösen Sinn. Denn unter Spiritualität verstehen wir ganz allgemein die bewusste Hinwendung und das aktive Praktizieren einer als richtig erkannten Religion und Philosophie sowie einer danach ausgerichteten Lebensweise. Heute ist säkularisierte Spiritualität vermutlich sogar weiter verbreitet als religiöse. Etwa in der Form einer ethischen Lebenseinstellung, wie sie etwa auch viele Veganer für sich in Anspruch nehmen.

Die damit einhergehende „Moralisierung der Märkte“, die der Kulturwissenschaftler Nico Stehr vor einigen Jahren heraufbeschworen hat, bahnt sich zumindest in der Welt des Essens und Trinkens ihren Weg: Blättert man durch Zeitungen und Magazine, kämpft man sich durch den Wust an Ernährungsratgebern und einschlägige Internetforen, studiert man aufmerksam vegane oder ayurvedische Kochbücher, so gewinnt man leicht den Eindruck, dass man fast überhaupt nichts mehr essen, geschweige denn genießen kann. Jeder Bissen könnte einem – ob aus gesundheitlichen, ökologischen und immer mehr auch aus moralischen Gründen – im Hals stecken bleiben. Mit jedem falschen Schluck fühlt man sich als Sünder oder Sünderin überführt.

Wir machen uns – so werden wir ermahnt – als Esser ständig mitschuldig an der Überfischung der Meere, am Elend der heimischen Bauern und der Landarbeiter in den Entwicklungs- und Schwellenländern, am Leiden der Schweine, Hühner und Rinder und am Hunger in der Welt. „Every single choice we make about food matters, at every level“, so bringt es Alice Waters, die prominente amerikanische Gastronomin, Autorin und Pionierin des Local Food Movement, auf den Punkt. Das ist natürlich nicht ganz falsch, aber als Imperativ für unsere täglichen Einkaufs- und Essentscheidungen folgt daraus nichts anderes als eine individuelle Überforderung: Wir fühlen uns ständig schuldig, immer fehlerhaft und unzureichend. Und werden damit anfällig für Essideologien und kulinarische Heilsversprechungen.

Vor allem aber verlernen wir, unser Essen zu genießen. Die banale Selbstverständlichkeit, dass ein gutes Essen uns auf vielen Ebenen erfreuen kann, gerät durch die immer fanatischer geführten Debatten um das richtige Essen, die längst zu Stellvertreterdebatten um das „richtige Leben“ geworden sind, ins Wanken. Statt Lust und Geschmack drohen immer mehr gesundheitliche Warnungen und moralische Imperative unsere Essentscheidungen zu prägen.

Die verängstigten Esser machen sich auf die Suche nach Befunden dafür, dass unser Ernährungssystem die ökologische Katastrophe heraufbeschwört, unsere Gesellschaft entweder an endemischem Übergewicht oder an moralischer Indifferenz zugrunde geht, und vermeinen daher, diesen Bedrohungen nur im Schutz von Verboten und Entsagungen entkommen zu können. Um die damit einhergehende Entsagung zu ertragen, laden wir das „bloße Leben“ moralisch auf, fühlen uns gut, wenn wir auf Fleisch, Alkohol und Zigaretten verzichten, und besser, wenn wir Fleisch-, Tabak- und Alkoholgenuss auch anderen verbieten.

Dem überzeugten Veganer reicht es daher meist nicht, dass er selbst keine tierischen Produkte mehr konsumiert; er fühlt sich schon belästigt, wenn am Nebentisch im Restaurant jemand anders seine Kalbsnieren genießt oder der Sitznachbar in der U-Bahn seine Wurstsemmel. Und der Nichtraucher mag sich nicht daran erfreuen, dass er in den nun seit vielen Jahren rauchfreien Speiseräumen sein Menü ohne blauen Dunst verzehren kann, da er es immer noch als lebensgefährliche Zumutung empfindet, wenn er dann auf dem Weg zur Toilette fünf Meter durch eine Raucherzone gehen muss, als wäre diese mit Tellerminen gepflastert.

Natürlich ist es nicht vernünftig, zu rauchen. Natürlich ist es nicht vernünftig, übermäßig viel Fleisch und fette Wurstwaren zu essen, wenn der Hausarzt gerade überhöhte Cholesterinwerte gemessen hat. Wie es auch nicht vernünftig ist, den ganzen Tag auf High Heels herumzulaufen und die bewundernden Blicke der Männer zu genießen, auch wenn einer dann abends die Füße schmerzen.

Und doch haben wir, wenn wir uns diese Genussmomente regelmäßig versagen, das Gefühl, am Leben vorbeizuleben. Und ahnen, dass ein ständiges Kontrollverhalten in Kombination mit einem rigiden Gesundheitsverständnis ein Teil des Problems ist, das wir mit dem guten Leben haben, und nicht dessen Lösung. Denn ein überzogenes Kontroll- und Gesundheitsverhalten ist immer auch auf Verzicht ausgerichtet, nicht nur auf Verzicht vermeintlich oder tatsächlich gesundheitsgefährdender „Genussmittel“, sondern auch auf Verzicht auf soziale Interaktion: auf Ausgelassenheit, Feiern, Überschreitung und – ja: Wagnis. Denn letztlich, das haben schon die antiken Philosophen Epikur und Lukrez gewusst, kann man nur dann richtig genießen, wenn man nicht um jeden Preis am Leben festzuhalten versucht. Und auch wenn es auf den ersten Blick ungeheuerlich erscheint: „Dem Tod gegenüber gelassen zu sein, ist eine entscheidende Voraussetzung, um überhaupt zu leben.“

Nachvollziehbar wird der Satz (er stammt von dem Philosophen Robert Pfaller) vielleicht erst dann, wenn wir dabei nicht ans Essen und Trinken denken, sondern zum Beispiel an gemeinsame Skiurlaube am Arlberg, an Tauchgänge im Roten Meer, an Bergsteigen in den Dolomiten oder an Paragleiten in der Steiermark: an Tätigkeiten, die vielen Menschen Spaß machen und ihnen, gerade wenn sie sich ihnen furchtlos hingeben, intensive Erlebnisse ermöglichen. Erlebnisse, durch die sie sich als lebendig erfahren. All diese Aktivitäten beinhalten immer auch Momente der Gefahr. Man kann sich verletzen oder sogar sterben. Und dennoch bereiten sie uns Lust, dennoch betreiben wir sie, ohne uns ständig zu fürchten.

Nur beim Essen und Trinken haben wir ständig Angst, etwas falsch zu machen. Wir erlauben uns – all den Genussangeboten zum Trotz – nicht wirklich zu genießen. Weil wir um unsere Gesundheit besorgt sind oder weil wir uns einreden (lassen), dass der Genuss dieses oder jenes Lebensmittels unmoralisch sei.

Ein gelungenes Leben besteht aber nicht nur in der Einhaltung moralischer Prinzipien. Es lässt sich auch, wie der Schweizer Ethiker Markus Huppenbauer sagt, nicht alles, was das Leben lebenswert macht, nicht alles, was für ein gutes Leben ausschlaggebend sein kann, moralisch begründen. Im Gegenteil: Für vieles, was uns wichtig ist, gibt es keine moralischen Gründe. Für die Liebe zum Beispiel. „Es besteht keine moralische Pflicht, andere zu lieben, ich muss sie nur respektieren.“ Und trotzdem ist es erst die Liebe, die unser Leben vollständig macht. Mit dem Genießen und mit der Freude am gemeinsamen Mahl ist es nicht anders.

MAG. HANNI RÜTZLER hat sich als Pionierin
der Ernährungswissenschaft und als Food-Trend-
Forscherin mit ihrem multidisziplinären Zugang zu
Fragen des Ess- und Trinkverhaltens weit über den
deutschsprachigen Raum hinaus einen Namen
gemacht.

Als Autorin und Referentin wird sie vor allem als
Vermittlerin zwischen Theorie und Praxis
geschätzt. Ihr jährlich erscheinender „Food
Report“ zählt zu den einflussreichsten
Publikationen in der Gastro- und
Lebensmittelbranche.

Foto: © Nicole Heiling