DES FLEISCHES NEUE ROLLE

VON HANNI RÜTZLER – MIT DER SPRICHWÖRTLICHEN FLEISCHESLUST VERBINDEN WIR NICHT NUR KULINARISCHE FREUDEN, NICHT NUR DEN APPETIT AUF STEAKS, SCHINKEN, PASTETEN, GULASCH, SCHWEINSBRATEN UND DARAUF, WAS UNS DIE KOCHKUNST IM LAUFE DER GESCHICHTE SONST NOCH ALLES AN KARNIVOREN GENÜSSEN BESCHERT HAT.

Sie ist auch ein Synonym für unser geschlechtliches Begehren. Und dass der Appetit auf Fleisch und die Lust am Sex miteinander zusammenhängen, auch darüber wurde schon viel spekuliert. Eine Gemeinsamkeit scheint unwidersprochen: Sie sind zugleich Quelle großer Freuden und ewiger Anlass, sich und andere zur Selbstkontrolle zu ermahnen.

So wie der Donjuanismus und die Nymphomanie immer wieder als erotische Maßlosigkeit getadelt wurden, so war und ist auch die kulinarische Maßlosigkeit, die selbstredend stets mit exorbitantem Fleischkonsum einhergeht, ein Ärgernis: ob aus Neid oder aus moralischen Überlegungen. Und dass sich im Fleisch als Nahrungsmittel nicht nur die sozialen, sondern – vielfach bis heute – auch die Geschlechterverhältnisse spiegeln, macht schon ein kurzer Blick in die Geschichte deutlich.

Fleisch war in fast allen Kulturen der Welt auch ein Symbol für Wohlstand und Macht. Und oft ein Vorrecht der Männer. Es galt als Kraftspender und wertvoller Proteinlieferant und damit als Leitsubstanz unserer Ernährung. Nur wenn genug zur Verfügung stand, durften es auch Frauen essen. Fleisch vom Hochwild war darüber hinaus lange Zeit ein ausschließliches Privileg des Adels. Deutlich geändert hat sich das in Europa erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als industrielle Produktionsmethoden Fleisch zu einem überall und in großen Mengen verfügbaren und billigen Nahrungsmittel machten. Diese Demokratisierung ließ den Fleischkonsum über alle sozialen und geschlechtlichen Grenzen hinweg massiv ansteigen.

Aber nicht nur die Menge, auch das konsumierte Fleisch selbst hat sich im Zuge dieser Entwicklung verändert. Immer mehr richtete sich die Fleischeslust auf die „edlen“ Teile. Nicht nur aus Statusüberlegungen, sondern auch aus praktischen Gründen. Kurzgebratenes hatte auch deshalb Konjunktur, weil die Doppelverdiener in den siebziger und achtziger Jahren zwar mehr Geld, aber weniger Zeit zum Kochen und Essen hatten. Andere Fleischteile – und damit auch das Know-how, wie sie am besten zuzubereiten sind – gerieten in Vergessenheit, auch weil die Tiere im Schlachthof nicht mehr nach langwieriger, traditioneller Art zerlegt werden, sondern in Zeit und Geld sparender Massenabfertigung.

Nicht zuletzt hat der Siegeszug der Filetkultur auch dazu beigetragen, dass Fleisch unsichtbar wurde. Dem von Sehnen, Häuten, Adern und Fett befreiten Muskelfleisch – ob als Chateaubriand, Kalbsmedaillon, Hühnerfilet oder entbeintem Schweinekotelett – war der tierische Ursprung oft kaum mehr anzumerken. Und damit wurde mehr und mehr verdrängt, dass für das Fleischessen auch das „Reißen“ von Tieren, das Jagen oder die Schlachtung unabdingbar sind. Und auch, dass Zuchttiere, ehe sie zu Fleisch und Wurst verarbeitet werden, gemästet werden müssen. Allzu oft unter Bedingungen, die auch dem notorischen Fleischliebhaber zuwiderlaufen, wenn er ihrer ansichtig wird. Und das lässt sich aufgrund der vielen Medienberichte heute kaum mehr vermeiden.

Dies ist ein weiterer Grund, warum nun, fünfzig bis sechzig Jahre nach der erfolgreichen Demokratisierung des Fleischkonsums, die jahrhundertealte Sehnsucht danach zumindest in den westlichen Industriestaaten, in Europa und Nordamerika, weitgehend gestillt scheint. Konsumstatistiken zeigen, dass Peak Meat hier schon überschritten ist. Mehr noch: In Teilen unserer Gesellschaft hat Fleisch sogar seine Faszination verloren und damit seine Rolle als Leitsubstanz an die ehemaligen „Beilagen“ abgetreten. Dazu haben nicht zuletzt die periodisch auftretenden Fleischskandale, vor allem aber auch Gesundheits-, Umwelt- und Tierrechtsfragen beigetragen, die heute die Diskussionen über Ernährung, insbesondere über den Fleischkonsum, prägen.

Frisches Gemüse ist nicht nur zum Gesundheitssymbol geworden, es erfreut sich auch bei Chefköchen in der Top-Gastronomie großer Aufmerksamkeit und eröffnet damit die Tore zu völlig neuen Geschmackswelten. Gut zu essen ist nicht mehr gleichbedeutend mit Fleisch zu essen. Connoisseurship beweisen heute vor allem Menschen, die nicht nur Karotten von Pastinaken unterscheiden, sondern auch die sensorischen Unterschiede verschiedener Tomatensorten benennen können, und die bei Bocksbärten nicht an sekundäre Geschlechtsmerkmale männlicher Ziegen denken, sondern an geschmacklich an Spargel erinnerndes Wildgemüse. Für mehr und mehr Konsumenten scheint sich das Verhältnis sogar gänzlich umzukehren. Für Veganer schließt „gutes Essen“ den Verzehr tierischer Produkte überhaupt aus.

Der Veganismus ist tatsächlich keine Erfindung des 21. Jahrhunderts: Den Einfall, prinzipiell kein Fleisch zu essen, hatten Menschen seit der Antike immer wieder mal. Zum Trend, der sich seit der Jahrtausendwende anschickt, die Diskurshoheit über Fragen der richtigen Ernährung zu gewinnen, konnte er jedoch erst werden, nachdem die kulinarische Fleischeslust allgemein gestillt war und der Blick der Konsumenten auf die Produktionsmethoden gelenkt wurde. Diese haben es allerdings erst ermöglicht, unseren Hunger, auch den auf das Leitprodukt Fleisch, zu stillen.

Aus soziologischer Perspektive ist nicht nur ökologisches Denken zunächst eine Sache etablierter Mittelschichten, deren Grundbedürfnisse bereits befriedigt sind. Das gilt auch für ethische Fragen zu unserer Ernährung. Erst wenn man ein Dach über dem Kopf hat und die Kinder satt sind, erst wenn man es sich leisten kann, schwimmen zu gehen oder einen Waldspaziergang zu machen, kommt man überhaupt auf den Gedanken, saubere Badeseen und naturbelassene Wälder zu fordern. Und erst wenn Menschen gerechte Arbeits- und Lebensbedingungen genießen können, kann die Idee, auch Tieren Rechte einzuräumen, auf fruchtbaren Boden stoßen. Das Paradoxe daran: Ohne die Industrialisierung – auch in der Landwirtschaft – würde die Basis für „bürgerliches“ und damit auch für grünes und veganes Denken fehlen.

Jetzt aber schlagen sich Gesundheits-, Umwelt- und Tierrechtsdiskussionen immer mehr auf unseren Tellern nieder. Nicht nur in explizit vegetarischen oder veganen Restaurants, sondern auch in vielen privaten Küchen. Wir haben gelernt, auch Getreide und Gemüse so gut und so variantenreich zuzubereiten, dass sie höchsten Gourmetansprüchen genügen. Und auch die gerne für den Fleischkonsum ins Treffen geführte ausreichende Proteinversorgung lässt sich mit einer ausgewogenen vegetarischen Ernährung leicht bewerkstelligen.

Damit verändert sich nicht nur die Wahrnehmung von Fleisch, sondern nach und nach auch wieder die Wertschätzung von tierischen Produkten. Sie macht so den Weg frei für neue qualitative Differenzierungen und fördert das Interesse an Rassen und Haltungsbedingungen sowie an besonderen Verarbeitungs- und Zubereitungsformen. In Metzgerfachgeschäften wird nicht mehr nur „Rindfleisch“ verkauft, sondern Fleisch spezifischer Rinderrassen wie Charolais, Limousin, Galloway, Deutsch Angus und Hochlandrind. Auch in Supermärkten und bei Discountern wächst das Angebot an Bio-Fleisch und speziellen Fleischprodukten (Dry-aged Beef oder Gockel). Und auf den Speisenkarten guter Gasthäuser findet man nicht mehr nur Wiener Schnitzel vom Schwein, sondern auch geschmorte Backen vom Mangalitza.

Richtige Fleischliebhaber bestellen inzwischen Fleischspezialitäten bzw. maßgeschneiderte Steaks via Internetversand, lernen das Zerlegen von Tierkörpern in Spezialkursen, machen Würste selbst oder besuchen zumindest einen Grillkurs. Mit der neuen Wertschätzung tierischer Produkte und mit der neuen Lust am Kochen – auch am heimischen Herd – wächst auch wieder das Interesse an anderen Fleischteilen, werden auch die „inneren Werte“ der Tiere (Leber, Herz, Lunge, Milz und Magen) wiederentdeckt. Nicht nur aus „Nachhaltigkeitsüberlegungen“, sondern auch aus kulinarischen.

Der geringere, dafür qualitätsbewusstere Fleischkonsum tut übrigens auch dem sexuellen Begehren keinen Abbruch. Einer kanadischen Studie zufolge finden Frauen karnivore Männer zwar maskuliner, Vegetarier aber attraktiver. Unser Traummann müsste demnach wohl ein Flexitarier sein: einer, der sich hauptsächlich vegetarisch ernährt, aber ein gutes Stück Fleisch oder ein hochwertiges Fleischprodukt zu schätzen und zu genießen versteht.

MAG. HANNI RÜTZLER hat sich als Pionierin
der Ernährungswissenschaft und als Food-Trend-
Forscherin mit ihrem multidisziplinären Zugang zu
Fragen des Ess- und Trinkverhaltens weit über den
deutschsprachigen Raum hinaus einen Namen
gemacht.

Als Autorin und Referentin wird sie vor allem als
Vermittlerin zwischen Theorie und Praxis
geschätzt. Ihr jährlich erscheinender „Food
Report“ zählt zu den einflussreichsten
Publikationen in der Gastro- und
Lebensmittelbranche.

Foto: © Nicole Heiling