BRUTAL LOKAL

„REGIONAL“ IST ZU EINEM INFLATIONÄR VERWENDETEN BRANDING VERKOMMEN. DIE AVANTGARDE UNTER DEN PRODUZENTEN UND KÖCHEN SCHÄRFT DEN LOCAL-FOOD-TREND DURCH „BRUTALE“ ZUSPITZUNG. UND VERLEIHT AUCH DEM BEGRIFF „SAISONAL“ EINE NEUE BEDEUTUNG.

Haben Sie schon einmal Buchweizenhonig gekostet? Kennen Sie die wilden Hopfensprossen? Wissen Sie, dass sich die grünlichen Blütenknospen der Teufelskralle zu einer wunderbaren Vorspeise verarbeiten lassen? Haben Sie sich schon einmal ein Sulmtaler Huhn geleistet? Oder die Gelegenheit gehabt, ein echtes steirisches Grubenkraut zu kosten?

Alles Lebensmittel, die Sie wohl kaum in einem Supermarkt finden werden. Köstlichkeiten, die Sie entweder selber pflücken müssen, wie die nur in einigen März- und Aprilwochen zu findenden unscheinbaren Sprossen des wilden Hopfens oder die bevorzugt in den Alpen wachsende Glockenblume mit dem teuflischen Trivialnamen – oder die Sie nur bei regionalen Züchtern, Produzenten und auf den Tellern ausgewählter Restaurants finden können. Lebensmittel, die einst als Arme-Leute-Essen gering geschätzt wurden oder immer schon als besondere – und damit auch besonders teure – Delikatesse gegolten haben, wie die steirische Hühnerrasse. Was sie verbindet, ist ihre Herkunft, genauer: ihre jeweils spezifische, lokal und oft auch saisonal beschränkte Herkunft. Sie verleiht ihnen angesichts der immer und überall zur Verfügung stehenden Lebensmittel aus der überregionalen, ja internationalen Massenproduktion einen besonderen Status, den nicht mehr nur ausgewiesene Gourmets zu schätzen wissen.

REGIONAL, LOKAL, SAISONAL

Die Präferenz für regionale Lebensmittel und – damit oft einhergehend – für regionaltypische, also traditionelle Zubereitungsarten ist seit vielen Jahren ein weit über die Gourmet-Szene hinaus wirksamer, dominanter Food-Trend. Als Reaktion auf die zunehmende Globalisierung und Industrialisierung unsere Nahrung speist er sich aus der Sehnsucht nach Vertrautheit, Natürlichkeit, Authentizität und Sicherheit. Produkte aus regionaler Herkunft, die eng mit dem „Terroir“ und den Menschen, die sie herstellen, verbunden sind, versprechen Orientierung in der unübersichtlichen Vielfalt, die die Globalisierung auch der Esskulturen mit sich bringt.

Dieser Trend spiegelt sich auch in der zunehmenden Attraktivität von Erzeugermärkten, in der steigenden Beliebtheit von Ab-Hof-Verkäufen und hat vor allem in der Gastronomie nachhaltige Spuren hinterlassen. Nicht nur mit positiven Effekten, denn oft genug verkommt „regional“ heute zu einem inflationär verwendeten Branding. Was die Avantgarde unter den Produzenten und Köchen – wie etwa den dänischen Starkoch René Redzepi – dazu bewegt, den Local-Food-Trend konsequenter zuzuspitzen und damit auch dem Begriff „saisonal“ eine neue Bedeutung zu geben.

Redzepis Beispiel macht auch deutlich, dass der Trend zur Regionalität, erst recht der Trend zur „brutalen“, also zur immer konsequenteren, radikaleren „Lokalität“, nicht eine konservative, ängstliche Trotzreaktion auf die wachsende „konnektive Geschwindigkeit“ – also die Verbundenheit von immer mehr Ländern, Wirtschaftsräumen und Kulturen – ist. Im Gegenteil: Gerade seine überzeugendsten Protagonisten denken kosmopolitisch. Und je radikaler sie den Fragen nach Bedingungen und Kriterien für Regionalität nachgehen und je spannendere Antworten sie darauf finden, desto größer ist ihre globale Resonanz. Dieses Paradoxon hat einen Namen: Es heißt Glokalisierung.

VON „LOCAL“ ZU „HYPER-LOCAL“

Gegenwärtig geht die Entwicklung von „Local Food“, also regionalen Lebensmitteln, immer mehr in Richtung „Hyper-local Food“, hin zu Produkten, die aus der unmittelbaren, direkten Umgebung stammen, aus dem eigenen Garten oder der zum Restaurant gehörenden Land- und Teichwirtschaft. Ein Trend, der sich auch im Urban Gardening, im privaten Anbau von Obst, Gemüse und Kräutern auf Terrassen, Balkonen, in Vor- und Schrebergärten widerspiegelt. Es geht aber nicht nur um Entfernungen. Es geht – auch in der Wahrnehmung der Konsumenten – in erster Linie um ein Qualitätsversprechen.

Was etwa für Wein-Connaisseurs längst selbstverständlich ist, dass die einzelnen Lagen über den Charakter eines Weines entscheiden können, das versuchen innovative Produzenten sinngemäß nun mehr und mehr auch auf Obst, Getreide und Gemüse zu übertragen. Sie experimentieren mit verschieden Sorten und Varietäten und versuchen, die für ihre Region jeweils optimalen zu finden und zu kultivieren. Zugleich geht die Fokussierung auf lokale Lebensmittel oft Hand in Hand mit nicht-industriellen Herstellungsmethoden, mit Klein- und Mittelbetrieben sowohl in der Landwirtschaft als auch bei der Lebensmittelverarbeitung. Und sie lockt eine neue Generation von Produzenten an, nicht selten auch Quereinsteiger mit überdurchschnittlicher Leidenschaft.

VON „HYPER-LOCAL“ ZU „BRUTAL LOKAL“

„Brutal lokal“ nämlich zielt in erster Linie auf Qualität ab, auf das Besondere und Exklusive, auf Alleinstellungsmerkmale und spezifische Nischen innerhalb des immer breiter werdenden Local-Food-Trends. Und – nur auf den ersten Blick paradox – auf das Exotische. „Hyper-local“ ist die radikale Fortsetzung von Local Food und zugleich seine Negation, die praktische Kritik an touristisch verwässerten Regionalitätskonzepten, die oft genug bloß auf „Regionalwashing“ hinauslaufen. Die neue Ultra-Lokalität schließt Inter-Nationalität nicht aus. Im Gegenteil, wie René Redzepi jüngst auf seinen Auslandsgastspielen in Japan und Australien gezeigt hat. Es geht nicht um Heimat-Verehrung, nicht um Food-Patriotismus. Es geht darum, jeweils vor Ort auch die verborgenen biologischen Schätze zu heben, sie kulinarisch sichtbar zu machen und damit auch zu bewahren.

Hyperlokale Restaurants – ob Sons & Daughters in San Francisco, Dan Barbers Blue Hill in New York oder Nobelhart & Schmutzig in Berlin – vertrauen nicht einfach auf nebulosen Regionalismus. Sie setzen auf einen kleinen Kreis streng ausgewählter lokaler Produzenten und greifen, wo immer es geht, auf selbst erzeugte Ausgangsprodukte zurück, sei es aus dem eigenen Garten, der angeschlossenen Landwirtschaft oder von ausgewählten Kleinproduzenten aus der Umgebung.

THE THIRD PLATE – IN ZUKUNFT FÜHRT DIE SAISON REGIE

Oder sie gehen – wie es René Redzepi in seinem neuen Restaurant, das er 2017 eröffnen wird, plant – noch einen Schritt weiter und überlassen der Natur selbst mit ihren saisonalen Besonderheiten die Regie: sei es durch die Verwendung von überreifem Gemüse oder – umgekehrt – durch Verwendung unreifer Früchte oder Nüsse, wie es in anderen Küchen, etwa in Südostasien, nicht unüblich ist. Und das heißt nichts anderes, als die ultimative Kontrolle über den Reifungsprozess – normalerweise der Ehrgeiz eines jeden Gärtners – ein Stück weit aufzugeben, sich auch von der Natur und ihren Launen überraschen und inspirieren zu lassen.

Radikal weitergedacht führt das letztlich auch zu einer neuen Menü-Philosophie, wie sie etwa der amerikanische Local-Food-Pionier Dan Barber in seinem Buch „The Third Plate – Field Notes on the Future of Food“ angedacht hat und wie sie Redzepi in seinem neuen Restaurant konsequent umsetzen will. „Wir haben uns“, so ist Redzepi überzeugt, „bislang zu sehr ins Korsett der klassischen Menüfolge zwingen lassen. Von kleinen Nibbles zu Beginn über die Fleisch- und Fischportionen in der Mitte bis zum süßen Dessert am Ende. Das Format hat uns diktiert, was wir kochen.“ Davon möchte er sich nun endgültig befreien und seine Menüs in Zukunft allein am saisonalen und „brutal lokalen“ Angebot orientieren: Im Herbst wird das Menü ausschließlich aus „wilden“ Ausgangsprodukten komponiert, aus Wildbret, Pilzen, Beeren, Moosen. Im Winter, wenn die Bäuche der Fische mit Rogen gefüllt sind, soll das Noma zum Seafood-Restaurant werden. Und wenn im Frühling die Welt wieder grüner wird, soll es auch das Menü werden – und das neue Noma zum vegetarischen Restaurant.

MAG. HANNI RÜTZLER hat sich als Pionierin der
Ernährungswissenschaft und als Food-Trend-
Forscherin mit ihrem multidisziplinären Zugang zu
Fragen des Ess- und Trinkverhaltens weit über den
deutschsprachigen Raum hinaus einen Namen
gemacht.

Neuburger ist in Ulrichsberg im oberen Mühlviertel
zu Hause. In einer Märchenlandschaft nahe dem
Böhmerwald.