ORIGINAL PHILOSOPHIE

AM ANFANG WAR DIE KOPIE
ÜBER DAS ORIGINAL UND SEINE AURA. VON KONRAD PAUL LIESSMANN

WAS WAR ZUERST, DAS ORIGINAL ODER DIE KOPIE? EINE DUMME FRAGE, KÖNNTE MAN MEINEN, STECKT DOCH IM WORT „ORIGINAL“ SCHON SEINE ERSTRANGIGE BEDEUTUNG: ES IST DAS URSPRÜNGLICHE, DAS ECHTE, DAS UNVERWECHSELBARE, DAS EINZIGARTIGE, DAS ERSTE. ABER DENKEN WIR VIELLEICHT EINMAL ETWAS GENAUER DARÜBER NACH. GÄBE ES EIGENTLICH ORIGINALE OHNE KOPIEN? WIRD ETWAS NICHT ERST DADURCH ZU EINEM ORIGINAL, DASS ES WIEDERHOLT, REPRODUZIERT, NACHGEAHMT, GEFÄLSCHT WIRD? GÄBE ES DIESE VERSUCHE DER IMITATION NICHT, DAS ORIGINAL WÄRE KEIN ORIGINAL, SONDERN BLIEBE IRGENDEIN DING, EINE EINZELHEIT, FÜR SICH UND GANZ ALLEIN, UND NIEMAND WÜRDE SICH DARUM KÜMMERN. ERST WENN WIR DEN VERDACHT HEGEN, ETWAS KÖNNTE EINE KOPIE SEIN, SUCHEN WIR NACH DEM ORIGINAL.

Die Aura des Originals entwickelt aber auch eine ungeheure Anziehungskraft, bewirkt eine eigentümliche Faszination.

Es ist leider tatsächlich so: Erst die Kopie macht das Original. Logisch gesehen setzt das Original die Kopie voraus, auch wenn zeitlich gesehen das Original – meistens zumindest – zuerst da war. Aber ob etwas wirklich ein Original ist, weiß man eben nicht in dem Moment, in dem es entsteht, sondern erst dann, wenn die ersten Kopien auftauchen. Das Verhältnis von Original und Kopie gehört deshalb zu den spannendsten Aspekten unserer Kultur. Denn in dem Moment, in dem das Original durch den Versuch, es zu kopieren, bestätigt ist, muss es sich auch gegen diese Versuche wehren und behaupten. Das Original braucht die Kopie, um ein Original zu sein, und es darf keine Kopie, die vorgibt, das Original zu sein, zulassen. Deshalb der Kampf um die Echtheit der Marken, gegen die Plagiate, gegen die Kunst- und Geldfälscher, gegen die täuschend echten Reproduktionen. Gestattet aus der Sicht des Originals sind einzig Nachahmungen, die den Status des Originals nicht angreifen, sondern bestätigen: die billige Imitation, die leicht durchschaut werden kann, das Remake, das ein großes Vorbild zitiert, die Cover-Version, die jederzeit klarmacht, dass der Originalsong besser war. Betrachtet man die Sache mit dem Original aus einer historischen Perspektive, stimmt der Satz, dass alles mit der Kopie begann, erst recht. Denn die Idee des Originals selbst ist relativ spät in unserer Kultur aufgetaucht, Antike und Mittelalter kannten diese Vorstellung von Originalität und Echtheit kaum, ganz im Gegenteil: Wer etwa im Mittelalter einer Idee, einer künstlerischen Leistung, einer Innovation Geltung verschaffen wollte, musste dies als Kopie, als Wiederholung einer schon vorhandenen, mehrfach beglaubigten Wahrheit ausgeben. Diese Kultur misstraute dem Neuen, Vertrauen erhielt nur, was sich bewährt hatte, schon lange da war und immer wieder nachgeahmt wurde. Deshalb berief sich diese Epoche gerne auf Autoritäten, sogar dann, wenn man ihnen widersprechen wollte. Zur Not konnte man ja auch einen Text fingieren, von dem man dann angeblich abgeschrieben hatte.

Erst die Moderne dreht das Verhältnis von Originalität und Kopie radikal um. Jetzt ist es das Neue, die Innovation, das, was zum ersten Mal getan, gedacht, gemalt oder geschrieben wurde, was fasziniert. Das Alte verliert an Wert, die Nachahmung und die Wiederholung gelten nun als Zeichen von Einfallslosigkeit und Impotenz. Das 18. Jahrhundert kreierte den Typus des „Originalgenies“, das Konzept des jungen, wilden, kreativen Menschen, der keine Vorbilder und Traditionen kennt, alles neu aus sich heraus schaffen, alles sich selbst verdanken will. Die Autoritäten und Lehrmeister, die künstlerischen Formen, denen bislang nachgeeifert worden war, gerieten dadurch natürlich in eine ziemliche Krise, die Suche und die Sucht nach dem Neuen begann.

Ihren eigentlichen Triumph feierte die Idee der Originalität dann auch in der Kunst. Hier ist die Frage nach dem Original, nach der Echtheit eines Werkes, nicht nur eine theoretische, sondern eine, die beträchtliche finanzielle Auswirkungen haben kann. Ein Museum, das sich im Besitz eines „echten“ Rembrandt wähnt, ist, sollte es sich herausstellen, dass es sich dabei „nur“ um eine Kopie, die Arbeit eines Schülers oder gar um eine Fälschung handelt, mit einem Schlag nicht nur ärmer, sondern auch weniger attraktiv geworden. Mit Kennerschaft, Sachverstand und modernsten technischen Mitteln der Bild- und Materialanalyse werden deshalb die bedeutenden Kunstwerke immer wieder auf ihre Echtheit und Originalität überprüft. Und taucht, was zwar selten, aber doch hin und wieder geschieht, auf einem ominösen Dachboden ein Bild auf, das sich nach genauer Untersuchung tatsächlich als ein „echter“ Rembrandt erweist, ist das für den Finder mit einem Treffer im Lotto vergleichbar. Von dem Philosophen Walter Benjamin stammt die berühmte und berüchtigte These, dass die Werke der Kunst, insofern ihnen Originalität und Echtheit zugesprochen werden können, von einer eigentümlichen, nahezu sakralen „Aura“ umgeben sind. Diese bewirkt, dass man sich einem solchen Werk nur mit Ehrfurcht nähert, die Aura hält uns auf Distanz, das Gemälde scheint nahezu entrückt. Wer sich vor einem unsterblichen Meisterwerk ungehörig benimmt, es betatschen will oder davor lautstark telefoniert oder schmatzend isst, wird deshalb auch vom Museumspersonal zurechtgewiesen werden. Die Aura des Originals entwickelt aber auch eine ungeheure Anziehungskraft, bewirkt eine eigentümliche Faszination. Wir können dies leicht nachvollziehen, wenn wir uns daran erinnern, welchen Ansturm die Ausstellung legendärer Kunstwerke, die wir doch aus zahllosen Kopien und Reproduktionen bestens kennen, auslösen können: der „Feldhase“ von Albrecht Dürer z.B. oder die „Sonnenblumen“ von Vincent van Gogh. Das Original zu sehen, verspricht immer noch einen anderen und intensiveren Erlebniswert, als eine Kopie zu betrachten, auch dann, wenn wir als Laien das Original von einer perfekten 3D-Kopie gar nicht mehr mit freiem Auge unterscheiden könnten. Walter Benjamin selbst war übrigens der Ansicht, dass die Aura der Werke im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit an Wert verlieren wird. Originalität und Echtheit werden bedeutungslos in einer Zeit, in der es technisch möglich ist, nahezu perfekte Kopien zu erzeugen. Und für den geistigen Gehalt eines Werkes und seinen ästhetischen Genuss sollte es ja unerheblich sein, ob ich das Original oder eine davon kaum noch unterscheidbare Kopie betrachte. Darüber hinaus kennen die modernen Kunstformen wie Fotografie und Film die Trennung von Original und Kopie gar nicht mehr. War es schon bei den analogen Varianten dieser Techniken mehr als fraglich, ob etwa das Negativ eines Fotos oder der erste Abzug als „Original“ gelten könne, so ist angesichts der digitalen Technik und der dadurch eröffneten Bearbeitungsformen diese Frage vollends obsolet geworden. Das hat dann auch manche Philosophen und Medienwissenschaftler verführt, das Zeitalter des Internet und des Computers überhaupt als eine Epoche zu sehen, in der das Original verschwindet und bestenfalls Unterschiede in den Kopien, die auf keinen gemeinsamen Ursprung, auf kein „erstes Mal“, auf keinen „Urtext“ mehr verweisen, festgestellt werden können.

Ganz so weit sind wir wohl noch nicht. Zeigt schon die ungebrochene Faszinationskraft originaler Kunstwerke die hohe Wertigkeit von Originalität, so spielt diese gerade in der modernen Welt der Medien und Märkte eine höchst bedeutende Rolle. Denn Originalität bedeutet auch: Innovation und Urheberschaft. Wer als erster eine gute Idee hat, ein Konzept entwickelt, eine Marktlücke entdeckt, ein Produkt zur Marktreife bringt, einen treffsicheren Gedanken formuliert, reiht sich nicht ein in die Kette von Kopien, Wiederholungen und Imitationen, sondern durchbricht diese. Natürlich erfinden wir nicht täglich das Rad neu, jede originelle Idee baut auf Vorhandenem auf, ist originell vielleicht nur in einer neuen Kombination, einer neuen Sichtweise, im Ergreifen einer Chance. Manchmal kann es sogar originell sein, Kopien herzustellen. In der zeitgenössischen Kunst gibt es die Richtung der „Appropriation Art“, deren Vertreter nichts anders tun, als vorhandene Werke anderer zeitgenössischer Künstler exakt zu kopieren. Diese Kopien gelten aber ihrerseits durchaus als Originale und erzielen entsprechende Preise am Kunstmarkt. Sicher eine originelle Idee. Die Verwandtschaft von Original und originell ist offenkundig, aber nicht ohne Tücken. Ein Original: Das kann auch ein Mensch sein, der in einer Husarenuniform durch die Stadt spaziert; und originell können auch Ideen sein, die wir als ziemlich abstrus empfinden. Originalität bedeutet immer das Abweichen vom Üblichen, Gewohnten, Bekannten, aber nicht jede Abweichung stellt einen Geniestreich dar. Schon der große Philosoph Immanuel Kant hat darauf verwiesen, dass es auch so etwas wie einen „originalen Unsinn“ geben kann: zwar einzigartig und auch neu, aber dennoch widersinnig und unbrauchbar. Die Grenze zwischen Originalität und Unsinn ist allerdings, wie wir wissen, nicht immer leicht zu ziehen. Kant selbst hatte von einem wirklich originellen Werk, dem Werk eines kreativen Genies, dann auch gefordert, dass dieses nicht nur neuartig und ausgefallen sein muss, sondern auch neue Wege eröffnen, in gewisser Weise exemplarisch sein muss. Wahre Originalität definiert immer neue Maßstäbe, etabliert einen neuen Standard, definiert Qualität neu, setzt die Markierungen für den Fortschritt – in welchem Bereich auch immer.

Das Original – und damit schließt sich der Kreis – erweist sich darin, dass es zur Kopie, zur Nachahmung, zur Imitation verführt. Natürlich können diese in einem technischen Sinn manchmal sogar besser sein als das Original selbst. Ganze Industrien leben von dieser Möglichkeit, perfekte oder zumindest gute Imitationen zu günstigen Preisen herstellen zu können. Den Nimbus des Ursprünglichen, die Aura des Echten, die Faszination des Außergewöhnlichen, die Kraft des Einzigartigen und Erstmaligen wird dem Original aber auch und gerade in Zeiten, in denen alles leicht und schnell reproduziert werden kann, nicht zu nehmen sein. Aber Vorsicht: Die Kopien lauern überall. Auch in diesem Essay. „Am Anfang war die Kopie.“ Mit diesem Satz schließt das Buch „Phänomenologie der Entgeisterung“ des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse. Aber vielleicht hat auch er diesen Satz kopiert.